Teil 26

In einem der Tempel lebte unter den beschriebenen Verhältnissen eine alte Frau, die für vier kleine Kinder zu sorgen hatte. Sie rief mich an, da sie mich für den Vertreter einer ausländischen Hilfsorganisation hielt. „Wo seid ihr Ausländer?„, rief sie. „Ihr habt versprochen, uns Brot, Wasser und Tee zu geben. Meine vier Kinder sterben, weil ich ihnen nichts zu essen geben kann.„ Seit zwei Tagen hätten sie nichts gegessen und stünden kurz vor dem Verhungern. Meine Hindu-Begleiter erzählten mir folgendes: Diese Frau sei Muslimin. Sie sei mit ihren vier Enkelkindern eines Tages hier aufgetaucht und habe sich nicht abweisen lassen. Die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr hätten versorgen können, seien ins Ausland geflüchtet. Nun versuche die Großmutter, die Kinder durchzubringen. Wir gaben der Frau ein paar Afghani, um Brot zu kaufen.

Ein Familienvater, der vierzigjährige Soliman, ist ebenfalls Moslem und hat sich im Tempel einquartiert. Offensichtlich haben die muslimischen Nachbarn keinerlei Vorbehalte, wenn es darum geht, Hilfe von den Hindus zu erbitten. Er erklärte mir, zusammen mit seiner Frau und seinen acht Kindern lebe er in einem einzigen Raum. Er sei als Flüchtling aus Pakistan zurückgekehrt und habe noch Glück gehabt, hier unterzukommen. Er selbst verlasse morgens um fünf Uhr den Tempel und verdiene mit zwölf Stunden Arbeit am Bau, wenn er Glück habe, 150 Afghani (3 Dollar) pro Tag. Diese Summe reicht jedoch nicht einmal aus, um trockenes Brot für seine zehnköpfige Familie zu kaufen. Fünf seiner Kinder – kleine Kinder von vier oder acht bis zehn Jahren – gingen täglich zum Betteln oder verkauften auf den Straßen Kleinigkeiten wie Zigaretten oder Plastiktüten. Jedes Kind bringe täglich etwa 30 Afghani (60 Cent) nach Hause. Alles zusammen reiche gerade aus, um trockenes Brot für die Familie zu kaufen. Oft gehe auch seine Frau betteln und bringe gelegentlich 20 Afghani nach Hause. Davon kaufe sie manchmal ein wenig Tee. Eine Schule besuchten seine Kinder nicht, das sei völlig undenkbar angesichts dieses Überlebenskampfes.

Im „Kart-e Parwan„-Viertel, einem alten Viertel im Westen der Stadt, leben heute noch vielleicht 300 bis 400 Hindus und Sikhs, größtenteils im Tempel und in einem alten Schulgebäude. Zur Najibullah-Zeit waren es noch 10.000, und neunzig Prozent der Häuser waren ihr Eigentum. Inzwischen wurden alle Häuser, die einst Sikhs und Hindus gehörten, enteignet. Dort leben heute Muslime, besonders ehemalige Mujahedin-Kommandanten. Der einst prachtvolle Tempel, den ich in seiner Glanzzeit sehr schätzte, ist heruntergekommen. Rund um einen etwas tiefer liegenden Hof, der um einige Stufen abgesenkt ist, befinden sich etwa zwanzig Räume. Dort leben etwa zweihundert Männer – Hindus und Sikhs. Frauen sah ich keine. Wieder ist festzustellen, dass dieser Tempel zu einer Zuflucht für die Ärmsten geworden ist. Die Ausstattung und die räumliche Enge sind ebenso schlimm wie in den anderen Tempeln. Nach den Aussagen der Bewohner seien die meisten ihrer Frauen fort und lebten im Ausland. Inmitten des etwa 120 -150 Quadratmeter großen Hofes, um den herum ca. 200 Personen leben, entdeckte ich eine Verbrennungsstätte für die Toten. Dies verletzt eigentlich die religiösen Bräuche der Hindus; doch sie dürfen ihre traditionelle Verbrennungsstätte außerhalb von Kabul nicht mehr nutzen.


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