Teil 25

Insgesamt traf ich dort noch 35 Hindu-Familien an, ca. 150 bis 180 Personen, von denen die meisten Kinder waren. In die Tempel hatten sie sich vor den Vertreibungen und Enteignungen der Mujahedin geflüchtet. Einst hatten die Hindus in diesem Viertel ca. 1.100 eigene Häuser besessen, neben Mietshäusern, in denen viele lebten. Mächtige Mujahedin-Kommandanten wie Amanullah Qusar haben sich ihren Besitz angeeignet und den Hindus angedroht, sie umzubringen, sollten sie zurückkehren und Anspruch auf ihr Eigentum erheben. (Zu den Entignungen durch die Mujahedin, die auch durch die Karsai-Regierung entgegen ersten Ankündigungen nach ihrem Amtsantritt nicht rückgängig gemacht wurden, später.)

Die Tempel, in denen die Hindus und Sikhs nun zwangsweise leben, liegen durch die Kriegszerstörungen praktisch in Trümmern und sind völlig zerschossen. Wenige unzerstörte Räume ohne Türen und Fenster und ohne Einrichtung dienen den Bewohnern als Wohn- und Schlafräume, in denen einige zerfetzte Decken und ein paar Kochstellen die gesamte Ausstattung bilden. Besonders Frauen und Kinder sind sichtlich von Krankheiten und Mangelernährung gezeichnet. Man erklärte mir, die Menschen in dem von mir zuerst besuchten Tempel stammten aus der Stadt Khost, wo die Zustände so schlimm seien, dass sie in Kabul Zuflucht gesucht hätten. Die siebzig oder achtzig Kinder, die im Tempel leben, wagen nicht, das Gelände zu verlassen, weil sie außerhalb ihrer Zuflucht von ihren muslimischen Altersgenossen beschimpft und mit Steinen beworfen werden.

Teilweise leben dort auch verarmte muslimische Flüchtlinge, mit denen die Hindus sich wohl oder übel arrangieren müssen. In ihrer Blütezeit waren die Hindu-Tempel mit ihren prachtvollen Fassaden und ihrer herrlichen Ausstattung geradezu ein Symbol der afghanischen Kultur. Doch während der Jahre der Kämpfe – zwischen den Mujahedin und später während der Belagerung der Taleban – lagen die Tempel ständig in der Schusslinie, so dass ihre Architektur vollkommen zerstört wurde. Heute ist ihre Umgebung dazu noch unbeschreiblich schmutzig und offensichtlich die Abfallhalde der Nachbarschaft. Eine Kanalisation gibt es nicht; wenn es im Winter regnet, watet man dort zwanzig Zentimeter tief in stinkendem Schlamm. Die afghanische Regierung unternimmt nichts zu ihrer Restaurierung. Ich bin überzeugt davon, dass sie in wenigen Jahren nur noch Schutthaufen darstellen werden, die man abträgt, um neue Häuser für muslimische Afghanen zu bauen; dann wird dieses kulturelle Erbe unwiederbringlich verloren sein.

In einem der Tempel sprach ich einen Familienvater direkt an und wollte von ihm wissen, wie seine Familie überlebe. Er gab mir folgende Auskunft, die auch für alle anderen Hindus gilt: „Ich hatte einen Gewürzladen im Bazar. Die Mujahedin haben ihn mir weggenommen, mich geschlagen und aus dem Bazar vertrieben. Ich hatte kein Geld, um aus dem Land zu fliehen, und musste hier bleiben. Inzwischen habe ich eine Frau und vier Kinder. Ich wohne in diesen Trümmern.„ Er zeigte mir einen Raum mit Betonboden, auf sich nur einige zerfetzte Decken, ein Gaskocher und etwas Blechgeschirr befand. Dort lebten sechs Personen. Seine Frau und seine Kinder wagten nicht, den Tempel zu verlassen. Über Tag hockten sie auf dem Hof, um sich in der Sonne zu wärmen. Auf die Frage, ob sie sich bei Nacht – bei Temperaturen bis minus zehn Grad – irgendwie wärmen könnten, lachte er nur. Sie hätten keine Möglichkeit, an Brennmaterial für ein Feuer zu kommen. Für genügend Brennholz müsste er das gesamte Geld, das er als Tagelöhner verdient, ausgeben. Nach dem Dunkelwerden werde trockenes Brot gegessen, und dann versuchten die Bewohner, ohne Licht und Wärme Schlaf zu finden. Auf Nachfrage erklärte er, manchmal finde er Arbeit als Tagelöhner, oft allerdings auch nicht. Wenn, dann verdiene er 100, mit Glück gelegentlich150 Afghani am Tag (2 bzw. 3 Dollar) – für einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Von diesem Geld könne er nur trockenes Brot für seine Kinder kaufen, damit sie wenigstens drei Mal am Tag etwas zu essen bekämen. Ganz selten gebe es Tee, der ein Almosen des Tempels sei. Fleisch, Obst, Gemüse, ja sogar Zucker für den Tee seien inzwischen Fremdwörter für sie. Auch er berichtete, von in- oder ausländischen Hilfsorganisationen hätten sie noch nie etwas gesehen. Seit drei Jahren appellierten die Hindus ständig an die Hilfsorganisationen, bekämen aber stets die Antwort, sie seien noch nicht an der Reihe. Manche gäben ihnen auch die zynische Antwort, sie seien doch Hindus, daher solle Indien ihnen helfen.


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